Das Recht zu träumen

von | 13. November 2024 | Diaspora, Lebensstil

Abgesehen von dem Traum, den jeder hat? - fragt Alex erneut.

Wir lachen.

Die Nacht hat bereits die letzten Krümel des Abendlichts aus dem Wohnzimmer gefegt, und der Raum ist leise in Halbdunkel getaucht. Ich sitze einem alten Freund gegenüber, der ein weiteres “Stahlpferd” für die ukrainischen Streitkräfte in die Ukraine bringt. Diesmal führt seine Route über Frankfurt, worüber ich sehr froh bin.

Kreuzfahrt, sagt Alex.

- Eine Kreuzfahrt? - Ich bin erstaunt. Das heißt, eine große schwimmende “All-inclusive”-Einrichtung, vollgepackt mit Rentnern, ohne die Möglichkeit, sie zu verlassen?

Darum geht es ja gerade! - Er beobachtet meinen Ausdruck des völligen Unverständnisses und erklärt: - Drei, oder besser noch vier Wochen. Irgendwo in der Karibik. Ohne Verbindung, ohne Internet, in völliger Ruhe. Aber bei diesem Traum geht es nicht um eine Kreuzfahrt. Es geht um die Freiheit, in der ich es mir leisten kann, nicht an die Arbeit zu denken, weil mein Geschäft auch ohne mich läuft. Das heißt, ich habe alles richtig gemacht.

Ich nicke mit dem Kopf. Das ist ein schöner Traum. Nicht einfach, aber machbar. Es sind Träume wie dieser, die uns die Motivation geben, morgens aufzustehen und etwas zu tun. Ich bin ein bisschen neidisch. Ich habe so etwas nicht. Noch nicht.

 

 

Und dann durchdringt mich ein Schauer. Ist es ein Luftzug, oder kommt er von innen? Wovon träume ich eigentlich? Ich weiß es nicht mehr. Als Kind habe ich auf jeden Fall geträumt: lebhaft, von lustigen kleinen Dingen. Damals kamen sie mir natürlich wow vor! Als Student habe ich von etwas geträumt - ich weiß nicht mehr, wovon, aber es ging definitiv um etwas Globales. Selbst als ich vor ein paar Jahren mit dem Rest der Welt unter Quarantäne gestellt wurde, hatte ich ein paar weltliche Träume. Und seit Anfang 2022 sind die Träume irgendwie in den Hintergrund getreten und haben einem endlosen Zyklus von “Must-Do” Platz gemacht.

Habe ich in diesen Zeiten überhaupt das Recht zu träumen? Mein Heimatland kämpft um seine Existenz. Mein Volk kämpft um seinen Platz auf diesem Planeten. Manche Menschen verlieren in einem Augenblick alles. Und ich bin hier, zweitausend Kilometer von diesem Aufruhr entfernt, in Komfort und Sicherheit. Habe ich das Recht, mich an einen Traum zu verschwenden? Das plötzliche Gefühl des “Überlebenssyndroms” macht mich ein wenig unruhig. Wer hat jetzt das Recht zu träumen? Wenn es solche Menschen gibt, wovon darf man dann träumen (anscheinend ist es für jeden zugänglich, den gleichen Traum wie alle anderen zu träumen, es ist ethisch, es braucht keine Erklärung). Aber was ist mit anderen Träumen - Träumen, die für einen selbst sind, wie in der Kindheit?

Die Jungs und Mädels an der Frontlinie riskieren bewusst ihr Leben und werden zu einem Stein in der Mauer, die den Rest der Welt von der Hölle trennt. Zweifellos haben sie sich ihr Recht auf Träume verdient. Aber was ist mit denen, die nicht an der Front sind? Zum Beispiel Militärlogistiker oder Flugzeugmechaniker. Dürfen sie vielleicht auch träumen? Und was ist mit denjenigen, die bereits demobilisiert wurden? Haben sie dieses Recht noch?

Wahrscheinlich mehr Freiwillige. “Ameisen”, die viel mehr als ihr eigenes Gewicht an die Front tragen. Sie verschulden sich, “weil sie etwas kaufen müssen, die Stationen darum gebeten haben und die Sammlung ins Stocken geraten ist”. Sie sehen ihre Familien tagelang, manchmal wochenlang nicht. Sie stehen am Rande der Entlassung, weil sie mehr fehlen als sie arbeiten. Aber ein Freiwilliger kann nur so viel liefern, wie die Gebühren reichen. Und es gibt immer wieder Menschen, die einem unter die Arme greifen und unerwartet fragen, wie viel Geld fehlt. Dieser freundliche Mensch, der sich nie laut als Freiwilliger bezeichnen würde, wird wahrscheinlich noch bescheidener leben als sonst, aber dank solcher Menschen lebt die Freiwilligenbewegung auch im elften Kriegsjahr weiter.

Hier stellt sich die Frage: Ist ein Traum ein Privileg, das man sich verdienen muss, oder ist er nur ein Abwehrmechanismus unseres Bewusstseins, eine Art “Bunker für die Seele”? Oder ist er etwas, das wir nicht aufgeben dürfen? Ich für meinen Teil kenne keinen besseren Motivator, um weiterzuleben, als einen Traum zu verfolgen. Alles andere - Willenskraft, Gewohnheit, Notwendigkeit, Pflichtgefühl - funktioniert auch, aber nicht lange. Ihre Kraft kann uns durch schwierige Zeiten tragen, aber sie können uns nicht immer weiterbringen. Und dann brauchen wir einen Traum. Nicht als Recht, nicht als Privileg, sondern als Mittel zum Überleben. Für jeden einzelnen Menschen. Für eine Nation. Für das Land. Wir brauchen diese treibende Kraft als Waffe. Sich selbst, seine Familie, sein Land nicht mit Waffen zu verteidigen, ist Dummheit und Verrat. Dann stellt sich heraus, dass Träumen unsere Pflicht ist.

Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um etwas Kleines, Triviales und nur für Sie selbst handelt, oder um einen kosmischen Traum für die gesamte Menschheit. Dieser Traum soll Sie in die Zukunft tragen und Ihnen Kraft geben.

Damals, im Jahr 2020, reisten wir durch die Ukraine und hielten in Kamianets-Podilskyi. Es war Juli, es war heiß, und in der Nähe des Rathauses gab es ein Café. Auf der Terrasse des Cafés steht ein Baumstumpf mit der Aufschrift “Stumpf der Sehnsucht” und einem Hammer. Daneben steht eine Anweisung: “Wünsch dir etwas und haue einen Nagel in den Baumstumpf. Denn ein Traum ohne Handlung ist wertlos.”

Traum. Handeln. Das ist unsere Pflicht.

 

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