LiterAktiv in Wien

von | Nov 17, 2024 | Diaspora

Es war Oktober 2021. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche St. Barbara in Wien, die schon immer ein wichtiger Treffpunkt für die ukrainische Diaspora  war, befand sich mitten in Renovierungsarbeiten. Im Nachbargebäude begannen die Mitglieder der ukrainischen Community sich zu versammeln und diverse Veranstaltungen abzuhalten: von gemeinsamen Bibelstudien über einen Schachclub bis hin zu Studentenpartys. Ich selbst bin nicht gläubig, spiele kein Schach und die Zeit der Studentenpartys ist für mich schon länger vorbei. Ich interessierte mich für Literatur und Kultur, konnte aber im Veranstaltungskalender nichts dergleichen entdecken. Nach meiner Nachfrage wurde ich mit der Ukrainerin Wiktorija Teliha vernetzt, die als einzige außer mir an solchen Veranstaltungen interessiert ist. Vielleicht könnten wir uns zusammenschließen und etwas gemeinsam organisieren.

 

«LiterAktiv».

Das ist der Name, auf den Wiktorija und ich uns nach langer Diskussion geeinigt haben. Wir träumten davon, dass LiterAktiv eine Plattform für aktive Leser:innen und Literaturschaffende sein würde. Der Plan war sich jeden Mittwoch zu treffen. Uns schwebten verschiedene Formate vor: Lesungen, Open Mic, kreative Schreibabende, auch Treffen mit den Schriftsteller:innen – wenn wir die Möglichkeit haben würden, jemanden trotz nicht vorhandener Finanzierung einzuladen. Der erste Schriftsteller, den Wiktorija einladen konnte, war Myroslaw Dotschynets, und es war ein voller Erfolg: volles Haus und ausverkaufte Bücher. Doch nach diesem Abend konnten wir auf unsere Workshops oder Vorträge  wochenlang niemanden einladen. Ich erinnere mich, dass wir einmal zumVortrag über Olena Teliha einluden und dabei über die  mögliche Verwandtschaft zwischen  Wiktorija Teliha und der berühmten Dichterin spekulierten (Spoiler-Alarm: sie sind nicht verwandt).

Später zog sich Wiktorija von LiterAktiv zurück, weil es leider wirklich schwierig war, dieses Ehrenamtsprojekt mit ihrer Arbeit und ihrem Studium zu vereinbaren.

Und mit dem Ausbruch des Krieges fehlte uns allen für eine Weile die Zeit für LiterAktiv, außerdem wurden die Räumlichkeiten für einige Monate zum Hauptquartier für Freiwillige, in das man humanitäre Hilfe und Medikamente bringen konnte, bis sich ein besserer Lagerort fand.

Und dann, im April 2022, als der Raum wieder zur Verfügung stand, schien ein Literaturprojekt uns unpassend zu sein, dass Worte in Zeiten, in denen Waffen gebraucht wurden, zu wenig bewegten. Ich beschloss jedoch, eine Veranstaltung in Form eines „freien Mikrofons“ auszurichten: Jeder konnte kommen und eigene Gedichte oder Lieblingsgedichte anderer Künstler:innen vorlesen. Unerwarteterweise kamen sehr viele Leute, die ich vorher noch nicht im Publikum gesehen hatte. Sie trugen jeweils ein kurzes Gedicht vor und stürzten sich dann in lange und ausschweifende Erzählungen darüber, woher sie kamen, wie es ihnen ging und warum das Gedicht, das sie gelesen hatten, ihnen in der gegenwärtigen Situation Kraft gab. Zunächst versuchte ich als Moderatorin, die Zeit im Auge zu behalten und zu unterbrechen, aber dann wurde mir klar, dass dies vielleicht das erste Mal war, dass sich viele Menschen trauten, durch die Linse der Literatur über ihren Schmerz zu sprechen, und ich musste ihnen einfach aktiv zuhören. Da begann ich wieder und noch fester an die Idee von LiterAktiv zu glauben.

Später fand ich eine Gleichgesinnte: Khrystyna Kasjanowa, die zunächst eine aktive Zuhörerin war und dann zu einer noch aktiveren Kuratorin von LiterAktiv wurde, dank der LiterAktiv langsam, aber sicher neue Höhen erreichte.

Im Vergleich zum Oktober 2021 sind wir deutlich gewachsen. Wir sind auf Social Media unterwegs (Facebook, Telegram, Instagram, E-Mail-Newsletter), haben ein eigenes Logo, arbeiten an einer Websiteen und wollen LiterAktiv offiziell als eigenständige ukrainische NGO registrieren. Aufgrund des Krieges sind viele Schriftstellerinnen (aus offensichtlichen Gründen sind das tatsächlich überwiegend Frauen) ins Ausland geflohen, und wir konnten sie einladen, sich uns anzuschließen. Leider ist ihre Arbeit immer noch unbezahlt, aber wir bemühen uns auch um eine Finanzierung. Tatsächlich veranstalten wir zurzeit so viele Präsentationen mit Autorenbeteiligung, dass wir nur noch gelegentlich Vorträge oder Workshops anbieten. Es gibt eine monatelange Warteschlange, und es kommt vor, dass wir nicht nur einmal, sondern zweimal pro Woche Lesungen ausrichten. Wir sind der ukrainischen Bibliothek der St. Barbara-Gemeinde, dem ukrainischen GRND-Restaurant und den Ukrainern des Vereins Unlimited Democracy sehr dankbar dafür, dass sie die Räumlichkeiten für unsere Events zur Verfügung stellen. Unterstützt werden wir auch von vielen Fotograf:innen, die ihre Zeit ehrenamtlich einsetzen: Anastasija Lawriw, Iryna Karpenko, Walerija Malzewa, Oleksandra Terefenko und andere. Ukrainische Medien schreiben bereits des Öfteren über uns. Wir träumen davon, dass noch mehr geschrieben wird, und zwar auch in österreichischen Medien.

Wenn wir uns richtig ins Zeug legen, würden wir gerne noch drei weitere Dinge erreichen:

  1. eine Anthologie mit Texten veröffentlichen, die von unseren Teilnehmer:innen während der Schreibabende verfasst wurden, 
  2. unser eigenes Literaturfestival veranstalten. Unsere Partner und Kollegen UStream und Hnizdo.Innsbruck hatten es bereits geschafft, zusätzliche Mittel aufzutreiben und eigene ukrainische Kulturfestivals in Österreich zu organisieren, und wir sind der Meinung, dass wir in der Lage sind, dasselbe zu tun,
  3. mehr zweisprachige Veranstaltungen organisieren, damit die ukrainische Literatur öfter aus ihrer Diaspora-Blase herauskommt und für österreichische Leser:innen zugänglicher und verständlicher wird.

LiterAktiv ist immer aktiv auf der Suche nach neuen Autor:innen und Partnern. Wenn Sie zu ersteren oder letzteren gehören wollen, kontaktieren Sie uns bitte: literaktiv@gmail.com

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