Zerschlagene Mythen

Nov. 11, 2025 | Persönlichkeiten

Ein „zutiefst gespaltenes Land“, „zerrissen zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘“ oder zwischen „russischsprachig versus ukrainischsprachig“, eine „künstliche Nation“ das sind nur einige der Stereotype und kolonialen Mythen über die Ukraine, die besonders bis zum Februar 2022 in den deutschen Medien, der Gesellschaft und Politik sehr verbreitet waren. Neben der russischen Propaganda, die solche Bilder der Ukraine gezielt in westlichen Gesellschaften zu verbreiten versuchte, spielte in Deutschland auch das Erbe eines gemeinsamen deutsch-russischen Kolonialismus auf Kosten der Länder, Regionen und Menschen Ostmitteleuropas eine Rolle. Der Blick war vornehmlich nach russland gerichtet, die Romantisierung der russischen Kultur ist bis heute zu beobachten, während die Ukraine ein blinder Fleck war, den Ukrainer:innen oft ihre Identität abgesprochen wurde.

Dass sich dieses Bild zumindest in der breiteren Öffentlichkeit erst seit Februar 2022 fundamental zu wandeln begann, sagt auch etwas über die deutsche Gesellschaft aus. Warum entdecken wir die ukrainische Kultur erst jetzt, wo die Ukrainer:innen für ihr Land sterben oder es millionenfach verlassen müssen – auf der Flucht vor russischen Bomben und der russischen Armee?

Aber auch wenn man, wie ich, Osteuropäische Geschichte studiert hat, war man zunächst durch einen russozentrischen Blick geprägt. Kurz nach Beginn meines Studiums fand in der Ukraine im Jahr 2004 die Orangene Revolution statt und auch für mich war die Ukraine (anders als Ruzzland) zu diesem Zeitpunkt immer noch ein blinder Fleck. Also fragte ich einen Professor, was wohl in der Ukraine nun passieren würde? Das Land würde wahrscheinlich in Ost und West zerfallen, war die Antwort. Ebenfalls zu Studienbeginn äußerte eine Studentin in einem Seminar, dass Nikolaj Gogol korrekterweise eigentlich Mykola Hohol hieß und ein Ukrainer war. Der Dozent schüttelte den Kopf: Nein, es handele sich um einen russischen Schriftsteller. Seitdem hat sich einiges geändert, auch wenn der Russozentrismus auch in der Wissenschaft noch lange nicht überwunden ist.

 

2016 reiste ich zum ersten Mal mit deutschen Studierenden in die Ukraine. In Charkiw führte uns ein Charkiwer Student durch seine Stadt und sprach auch davon, wie sehr er sich eine freie und demokratische Ukraine in Europa wünschte. Ungläubig fragte mich einer der deutschen Studenten nach meiner Übersetzung, ob er das wirklich gesagt habe? Wir sind doch hier ganz im Osten der Ukraine, wo angeblich die Menschen Ruzzland zuneigten? Ich konnte beobachten, wie die Vorurteile über die Ukraine bei diesem Studenten bei seinem ersten Besuch im Land auseinanderfielen.

Für mich persönlich war die ukrainische Revolution der Würde 2013-2014 ein Wendepunkt. Mit Bewunderung beobachtete ich von Deutschland aus wie Menschen, viele jünger als ich, für Dinge kämpften, die für mich als Deutsche selbstverständlich sind und mich von Geburt an begleiten. Seitdem bereiste ich die Ukraine regelmäßig und begann Ukrainisch zu lernen. In Lwiw probierte ich meine Ukrainisch-Kenntnisse aus und nicht selten wechselten die Verkäuferinnen ins russische, wenn sie merkten, dass ich das besser beherrschte. Das war also die hypernationalistische Westukraine, die alles russische fanatisch ablehnte? Bei meinen Besuchen in Kyjiw, Odesa und Charkiw war ich fasziniert von der Vielfalt dieser Städte und zugleich immer wieder beeindruckt von der starken ukrainischen Zivilgesellschaft. Bei Reisen in Städte wie Uman und Winnyzja, die vor dem Zweiten Weltkrieg sehr stark jüdisch geprägt waren, entdeckte ich das jüdische Erbe der Ukraine. Als wir (meine ukrainische Freundin und ich) in Winnyzja in die Synagoge gingen, kamen wir erst etwa zwei Stunden später wieder heraus – voll beladen mit Büchern und Tipps für unseren Besuch von den Gemeindemitgliedern, die wir dort getroffen hatten.

Das war der Beginn meiner Beschäftigung mit der Ukraine. Während der Revolution der Würde von 2013/14 verstand ich erstmals wie stark die deutsche Gesellschaft von kolonialem Denken geprägt war und wie viel es in der Ukraine zu entdecken gab. Die Geschichte des deutsch-russischen Kolonialismus auf Kosten Ostmitteleuropas – sie ist noch lange nicht aufgearbeitet. Die Geringschätzung ostmitteleuropäischer Perspektiven ist ein Grund für das Versagen Deutschlands im Umgang mit Ruzzland in den letzten Jahrzehnten. Deutschland muss sein Verhältnis zu Ruzzland radikal überdenken und darf nicht in alte Träume von „Annäherung“ und „Versöhnung“ zurückfallen. Heute ist das Wichtigste, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Ruzzland zu unterstützen – militärisch, politisch und wirtschaftlich. Die Ukraine verteidigt gerade die europäische Sicherheitsordnung, die uns alle schützt. Mit der Ukraine steht und fällt Europa.

Deutschland muss sein Verhältnis zu Ruzzland radikal überdenken und darf nicht in alte Träume von „Annäherung“ und „Versöhnung“ zurückfallen. Heute ist das Wichtigste, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Ruzzland zu unterstützen – militärisch, politisch und wirtschaftlich.

Text und Fotos: Franziska Davies,
Historikerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam

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