Porträt fürs Leben
Durch verschiedene Kunstformen wie Zeichnen, Skulptur oder Collage eröffnet die Kunsttherapie einen Raum zur tieferen Selbstfindung und zur Heilung emotionaler Wunden.
Die Heldin des heutigen Artikels ist eine sehr starke Frau, die nicht nur den Kampf gegen eine schwere Krankheit gewonnen hat, sondern durch diesen Kampf auch ihre Berufung gefunden hat. Olena Trutnieva ist eine begabte Künstlerin und Designerin, die, wie viele andere Frauen, nach Deutschland kam, um ihr Kind vor dem Angriffskrieg zu retten. „Porträt fürs Leben“ ist ihr Kunstprojekt, das Frauen daran erinnern soll, wie schön sie sind, damit sie sich selbst erkennen, ihre Stärke spüren und sich in einer neuen Welt neu entdecken können.
Anfang
August. Eine Woche vor meinem Geburtstag. Eine weitere Migräneattacke, mein Körper schmerzt, meine Gedanken sind verwirrt. Eine weitere Krankmeldung, weil ich keine Kraft habe, um zum Deutschkurs zu gehen. Schließlich stellt der Arzt eine Überweisung für ein MRT aus. Ein Freund hilft mir, einen Termin zu organisieren, und jetzt liege ich da. Das Gerät summt um mich herum und macht Bilder von meinem Kopf. Wie sich später herausstellt, zeigen die Aufnahmen einen Tumor, der sofort operiert werden muss.
Ich kämpfe darum, meinen möglicherweise letzten Geburtstag zu feiern, denn mein erster Gedanke ist: „Wie soll ich in diesem Zustand Gäste empfangen? Nach der Operation werde ich ja hässlich sein.“ Ein paar Tage später bin ich im Krankenhaus. Tests und Vorbereitungen. Der Arzt warnt mich vor möglichen Folgen. Doch ich verspüre keine Angst. Ich poste wahrscheinlich meinen letzten Beitrag auf Instagram und starte eine Spendenaktion für die Ukraine, weil Hilfe immer gebraucht wird.
Tage auf der Intensivstation. Ich bin am Leben. Als ich mich schließlich ein wenig bewegen kann, bitte ich um Zeichenmaterial. Intuitiv verstand ich, was ich brauchte, um mich zu erholen – ich musste mein neues Ich, mein wahres Ich, akzeptieren. Ich begann, Fotos zu machen und Selbstportraits zu zeichnen. Ich malte mich ohne jegliche Verschönerungen – mit geschwollenen Augen, verschwommenem Blick und fahler Haut. Ich betrachtete mich aus verschiedenen Blickwinkeln und lernte mein neues Ich kennen. Das Zeichnen half mir, mich nicht nur körperlich – Feinmotorik, Bewegung, Konzentration –, sondern auch emotional und psychisch, zu erholen.
Idee
Während der Rehabilitation wurde mir klar, dass ich anderen helfen kann und will. Als Person, die Ereignisse durchgemacht hatte, die mein Leben umkrempelten, veränderten und inspirierten, hatte ich die Kraft, anderen zu helfen. Meine Idee war es, Frauen dabei zu unterstützen, sich selbst zu finden. Viele Frauen, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind, haben Schwierigkeiten, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Sie können ihren Platz und ihre Bestimmung nicht finden, fühlen sich mit ihren Gedanken allein gelassen und beginnen, sich in sich selbst zu verlieren. All ihre Ängste und Komplexe verstärken sich, da es weder vertraute Menschen noch Routine gibt – und vor allem keine Beständigkeit, Stabilität oder Ruhe.
Während ich mich selbst, meinen Körper und meinen Geist erforschte, begann ich, kleine Dinge an mir zu lieben, sie zu schätzen und zu akzeptieren. Aus dieser Erfahrung entstand meine Idee: Frauen beizubringen, sich selbst durch das Zeichnen zu akzeptieren.
Prozess
Das Projekt begann Anfang des Jahres und dauerte drei Monate. Die Teilnehmerinnen waren ukrainische Frauen, die aufgrund des Krieges gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und in Stuttgart Zuflucht zu suchen. Die Frauen trafen sich zweimal pro Woche, samstags und sonntags, und verbrachten mehrere Stunden miteinander, redeten und malten. Die wunderbaren Menschen von dem UAKS, dem Mental Health Hub DIM und Anna Bakinovskaia halfen mir dabei, meine Idee in die Tat umzusetzen.
Es kamen Frauen unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Erwartungen zu mir. Einige kamen, um zu malen, und spürten dabei, dass es auch eine Therapie war, andere suchten von Anfang an eine therapeutische Erfahrung. Natürlich erklärte ich einige grundlegende Dinge zur Theorie des Zeichnens, aber ich versuchte, den Fokus nicht auf akademisches Zeichnen zu legen, denn mein Ansatz war ein anderer.
Ich bat die Frauen, ungeschminkt zu kommen, wenn sie sich das zutrauten, denn ohne zusätzliche Farben und Verzierungen sieht man sein wahres Ich. Wir machten Selfies direkt im Atelier – ohne Filter oder Photoshop – und begannen zu malen. Meine wichtigste Anweisung war: Wir schmücken nichts aus, wir entfernen nichts – wir nehmen alles so, wie es ist. Jedes Detail ist wichtig: Falten, Asymmetrien, Muttermale und Altersflecken – all das gehört zu dir. Du musst nur lernen, es zu akzeptieren. Das sind keine Makel, sondern Eigenschaften.
Resultat
Als sich unser Projekt dem Ende zuneigte, wurde mir klar, dass ich allen zeigen wollte, wie sehr sich meine Teilnehmerinnen verändert hatten und wie das Zeichnen ihre Selbstwahrnehmung beeinflusst hatte. Jedes Mal malten wir ein neues Porträt, und es war unglaublich, die Entwicklung zu beobachten. Ich wollte, dass jede versteht, dass wir wirklich die Kontrolle über uns selbst haben. Jede von uns kann ihre Ängste und die Glaubenssätze aus der Kindheit – wie etwa „meine Mutter hat gesagt, ich kann das nicht“ – überwinden und mit dem Malen beginnen. Am Ende haben wir 40 Porträts gesammelt. Die Ausstellung fand im Theater Rampe statt.
Zukunftspläne
Fast alle von uns haben seit ihrer Kindheit den Satz gehört: „Du kannst ja nicht zeichnen/dichten/tanzen, dann lass es sein.“ Doch die Fähigkeit, an sich selbst zu glauben, auch wenn die Menschen, die einem am nächsten stehen, es nicht tun, ist etwas, das man lernen kann. Olena möchte den Menschen nicht nur beibringen, wie man mit verschiedenen Techniken und Farben malt, sondern auch zeigen, dass wir alle die Fähigkeit haben, etwas Neues zu beginnen und mit Zuversicht ein neues Leben aufzubauen.
Geschrieben von Lusanova Olena
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