Das Vermächtnis des “Ї” oder der Mord und das Überleben der ukrainischen Sprache
Parallel zur russischen Invasion in der Ukraine erleben wir heute die unglaubliche Entwicklung der ukrainischen Kultur und ihre Popularisierung in der Welt. Gleiches gilt für die ukrainische Sprache als Hauptmerkmal der ukrainischen Identität. Aber es war nicht immer so.
Eine der häufigsten Fragen der deutschsprachigen Be- sucher des ukrainischen Stands bei den diversen Kulturfesti- vals vor einigen Jahren war, ob Russisch und Ukrainisch ein und dasselbe sind. „Auf keinen Fall“ — antworteten wir,„die Mitglieder des Ukrainischen Ateliers für Kultur & Sport,“diplomatisch, steckten unsere Verärgerung ein und führten zahlreiche Beispiele und unbestreitbare Argumente an. Heute sieht die Situation viel besser aus. Der offene Einmarsch Russlands in die Ukraine zwang die Europäer zumindest indirekt zu verstehen, dass es einen Unterschied zwischen Russland und der Ukraine gibt, und zwar nicht nur in der Sprache. Aber lassen Sie uns herausfinden, was der Grund für eine solche Haltung ist und wie genau das russische Reich jahrhundertelang versuchte, die ukrainische Sprache in allen Lebensbereichen zu vernichten.
Die ukrainische Sprache hat wie jede andere Sprache auf dem eurasischen Kontinent ihre Geschichte, die Tausende Jahre zurückliegt und auch heute nicht zu hundert Prozent erforscht wird. Ziemlich sicher lässt sich sagen, dass Ukrainisch ebenfalls dem Urslawischen entsprungen ist — der Sprache, die heute als Vorfahre aller modernen slawischen Sprachen gilt und die — methodisch von den Sprachwissenschaftlern abgeleitet — sich wiederum vom Indogermanischen abspaltete. Der ukrainische Wissenschaftler Wasyl Kobyliukh untersuchte z. B. die altertümliche ukrainische Volkskunst, archäologische Befunde sowie wissenschaftliche Werke seiner Kollegen, um den Zusammenhang zwischen der ukrainischen Sprache und Sanskrit zu erforschen. Wie die deutsche Sprache sich verschiedener Wörter wie Dschungel, Ingwer, Lack oder auch Shampoo und Pyjama bedient, die ursprünglich aus Sanskrit stammen, so gibt es auch eine Menge der ukrainischen Wörter, die ebenfalls ihren Ursprung in Sanskrit haben: Pan und Pani (dt. Herr und Herrin), Kulja (dt. die Kugel) oder Tschest’ (dt. die Ehre) und Poschana (dt. Respekt).
Merkmale der ur-ukrainischen Sprache wurden bereits im 6. bis 11. Jahrhundert n. Chr. gebildet. Und das Ende des 11. — Mitte des 12. Jahrhunderts kann als Beginn der Existenz der ukrainischen Sprache als System angesehen werden, das sich bereits in seinen Merkmalen von anderen Sprachen unterschied.
Zahlreiche Inschriften und Graffiti an den Wänden der Sofia von Kyjiw, die aus dem zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts stammen, zeugen von der Existenz einer Schriftsprache bereits in dieser Zeit.
Die Schriftsprache der Kyjiwer Rus erschien in zwei Formen — Kirchenslawisch, das den Bedürfnissen der Kirche diente, und Altrussisch oder Altukrainisch oder Altkyjiwisch — die Amtssprache der Rus, die neben den staatlichen die kulturellen Funktionen abdeckte, und in welcher die ersten literarischen Werke geschrieben wurden:„Die Geschichte vergangener Jahre“ (1116), „Die Lehre von Wolodymyr Monomach an seine Kinder“ (1117), „Das Wort über das Regiment Ihor’s“ (1187).
Im Übrigen wird die Ukraine als Land 1187 zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Mit Beginn des Buchdrucks erfuhr die ukrainische Sprache eine neue Entwicklung. Und natürlich entwickelte sich Ukrainisch wie jede andere Sprache nicht im luftleeren Raum und wurde ständig mit Fremdwörtern angereichert. Dadurch, dass das ukrainische Alphabet auf der griechischen Schrift basierte, wurde die Sprache durch sog. Griechismen bereichert.
Türkische Anleihen kamen in die Steppengebiete des Landes. Durch die Entstehung der Jesuitenkollegs in den Großstädten kam Latein in den Gebrauch.. Darüber hinaus weist dieukrainische Sprache zahlreiche Anleihen aus den polnischen, deutschen, ungarischen und rumänischen Sprachen auf. So entwickelt sich jede Sprache. In ähnlicher Weise tauchten in anderen europäischen Ländern Ukrainismen auf, wie zum Beispiel, das römisch-germanische „Steppe“ aus dem ukrainischen „Step“,das polnische „hreczka“ oder „czeresnia“ aus dem ukrainischen „Hretschka“ (dt. Buchweizen) und „Tschereschnja” (Sauerkirsche),das rumänische „smântână“ von „smetana“ (dt. saure Sahne) oder das ungarische „csónak“ von „Tschowen“ (dt. das Boot)..
Die ukrainische Sprache entwickelte sich und gewann noch mehr an Melodie und Flexibilität. Doch nicht allen gefiel diese Entwicklung. Im 17. Jahrhundert fiel ein Teil der ukrainischen Länder an das Russische Reich, und ab diesem Moment begannen die künstlichen Erzählungen über die „„Brüdernationen“ und „eine Sprache“.
Seit nun mehr als 350 Jahren verübten das Russische Reich und seine Nachkommen in Form der UdSSR, auch das moderne Russland eingeschlossen, das gezielte Linguizid — die Vernichtung der ukrainischen Sprache als Hauptmerkmal des ukrainischen Enthos.
Am Anfang des 18. Jahrhun- derts auf Anordnung des Zaren wurden die ukrainischen Texte aus der Kirche entfernt (Schriften, Messen etc.) und der Druck der Bücher oder der Unterricht auf Ukrainisch wurden verboten. All dies wurde von Verfolgungen, Repres- sionen und Hinrichtungen der ukrainischen Intellektuellen begleitet. 1804 wurde der Unterricht auf Ukrainischen in allen Bildungseinrichtungen endgültig verboten. Die Unterdrückung der Bildung in einer bestimmten Sprache ist eines der Hauptwerkzeuge des Sprachmords, weil sie zukünftige Generationen beeinflusst und diese einer Erinnerung beraubt. Es war nicht einmal erlaubt, Kinder mit ukrainischen Namen zu taufen. Das Jahr 1863 brachte den Ukrainern das berüchtigte Waluew-Rundschreiben, das die Veröffentlichung von Lehrbüchern, Literatur und religiösen Büchern in ukrainischer Sprache verbot. 1876 unterzeichnete der russische Zar Alexander II. in der deutschen Stadt Bad Ems ein Dekret, das darauf abzielte, die ukrainische Sprache und Kultur endgültig zu zerstören.
Die sowjetische Führung setzte dort, wo das Imperium aufgehört hatte, an und bemühte sich weiterhin um die Zerstörung der ukrainischen Identität — die Sprache im Visier. Für den Gebrauch der ukrainischen Sprache wurde man verfolgt, eingesperrt, gefoltert und erschossen. Die sowjetischen Behörden griffen sogar in die inneren Mechanismen der Sprache ein und verboten Buchstaben, Wörter, syntaktische Konstruktionen und grammatikalische Formen. Stattdessen wurde eine neue Schreibweise der ukrainischen Sprache entwickelt, mit dem Ziel, sie künstlich an das Russische anzugleichen. Insgesamt zählen Forscher mehr als 130 offizielle Verbote der ukrainischen Sprache von der Zaren- bis zur Breschnew-Zeit, und es gilt noch immer als ein Wunder, wie Ukrainisch all die Jahre der Verfolgung überstanden hat.
Mit der Unabhängigkeit der Ukraine erreicht die Sprachfrage — wie sie in der Ukraine genannt wird — eine neue Stufe: Die jahrhundertelange Russifizierung der Bevölkerung im Osten des Landes und die Dominanz des Russischen in den Medien und der Popkultur generell ver- stärkten Narrative über die Unterlegenheit der ukrainischen Sprache. Aber mit dem Beginn des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine im Jahr 2014 änderte sich alles. Es wurden neue kulturelle Institutionen gegründet, die ukrainische Kunst hat einen mächtigen Entwicklungsschub bekommen und die ukrainischsprachige Literatur hat endlich angefangen, das Russische aus den Bücherregalen zu verdrängen.
Und wir hoffen auch dadurch unseren Beitrag zum Schutz, aber auch der Weiterentwicklung der ukrainischen Sprache zu leisten
Trotz aller Schwierigkeiten wird Ukrainisch heute immer beliebter: Mehr als 40 Millionen Menschen sprechen heute diese Sprache. Nach Angaben von Duolingo , der beliebten App zum Sprachen lernen, stieg die Anzahl der User, die Ukrainisch lernen wollen, seit dem Beginn der offenen Invasion Russlands um 577 %. Wir in der Gel[:b]lau-Redaktion hoffen, dass dieser Trend auch in der Nachkriegszeit, die unbedingt kommen wird, anhält. Schließlich ist die ukrainische Sprache nicht nur reich an Synonymen, sondern auch unglaublich melodiös. Es ist eine nachgewiesene wissenschaftliche Tatsache, die den Rhythmus und die Melodie der Sprache berücksichtigt — das Verhältnis von Konsonanten und Vokalen bei der Konstruktion von Wörtern und Phrasen. Der Buchstabe Їexistiert im Übrigen als eigener Buchstabe nur im ukrainischen Alphabet, zumindest was die modernen slawischen Sprachen betrifft.
Im März 2022 hatdie Generalversammlung der Europe- an Federation of National Language Institutions (EFNIL) der Ukraine die Mitgliedschaft im EU-Sprachenbund zugesprochen, was laut dem Beauftragten für den Schutz der Staatssprache Taras Kremin künftig „ermöglichen wird, eine Strategie für den rechtlichen Schutz der ukrainischen Sprache als künftiger Sprache der EU zu entwickeln“.
Sie halten in den Händen oder lesen digital die neue Ausgabe von Gel[:b]lau — dem ersten deutsch-ukrainischen Magazin dieser Art. Und wir hoffen auch dadurch unseren Beitrag zum Schutz, aber auch der Weiterentwicklung der ukrainischen Sprache zu leisten.
Geschrieben von Kseniya Fuchs
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