Familie als Traum

von | Nov 17, 2024 | Persönlichkeiten

  • Wovon träumst du? 
  • Ich weiß es nicht. 
  • Weißt du, wie es ist, zu träumen? 
  • Nein.
  • Es ist so, als ob man etwas ganz stark will. Vielleicht gab es eine Zeit, in der du dir etwas wirklich gewünscht hast? Das ist es, worum es beim Träumen geht.
  • Ich habe von dir geträumt, von Timur, von Brüdern und Schwestern… 

 

Dieser Dialog bricht einem das Herz, wenn man feststellt, dass es sich um ein Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer gerade adoptierten Tochter handelt. Die Mutter Inna erklärt ihrer Tochter Angelina wie das Träumen geht. Nicht weniger berührend ist die Geschichte, wie sie zueinander gefunden haben – es gab viele Hindernisse auf dem Weg. 

Erstens befand sich Angelina zu Beginn des Angriffskriegs Putins auf die Ukraineim Ausland. Sie wurde zusammen mit anderen Kindern, die in einer Kindereinrichtung lebten, nach Polen evakuiert. Zweitens wurden Kinder, die ins Ausland evakuiert wurden, bis Juni 2023 nicht zur Adoption freigegeben. Drittens entdeckte Inna unter den Hunderten von Profilen verschiedener Kinder Angelinas Fragebogen und wusste von dem Moment an, dass sie Angelina in ihre Familie holen wollte. Sie und Timur mussten Tausende von Kilometern und sehr viele bürokratische Entscheidungen überwinden, um schlussendlich glücklich miteinander leben zu können.

Angelina ist das zweite Kind, das Inna und Timur Miroshnichenko adoptierten. Im Juni 2023 adoptierten sie bereits einen Jungen, Marcel . Inna und Timur haben neben den adoptierten Kindern noch zwei leibliche Kinder – Mia und Marko. Die Zahl der Kinder in ihrer Familie hat sich mit dem Angriffskrieg Russlands also verdoppelt. In der Tat war es, wie Inna sagt, der Krieg, der diese Entscheidung verursachte. 

“Gedanken über eine Adoption tauchten zu Beginn des Krieges auf. Gerade bezüglich ukrainischer Kinder gab es viele Falschmeldungen der Russen, doch diese Falschmeldungen ließen mich erkennen, dass es viele Kinder gibt, die in Waisenhäusern und Internaten leben und dass sich niemand um Schicksal schert. Und dann wurde mir klar, dass es keinen besseren Zeitpunkt als jetzt geben würde, um einem Kind eine Familie zu geben.”.

Inna und ihr Mann träumten von einer großen Familie. Sie planten irgendwann später mehr Kinder zu haben. „Aber mit dem Beginn des Angriffskrieges haben wir erkannt, dass “später” jetzt ist. Doch dieses Mal dachten sie darüber nach, wie das Kind in ihrer Familie „landen“ könnte.

“Viele meiner Bekannten denken darüber nach, ob es richtig ist, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn Krieg herrscht, weil sie die Sicherheit dieses Kindes nicht garantieren können. Die Kinder, die in unsere Familie gekommen sind, leben bereits, sie wurden vor dem Kriegsbeginn geboren, das heißt, sie litten bereits unter dem Krieg. Und mir wurde klar, dass es für sie einfacher sein würde, ihn zu überleben, wenn sie in eine Familie kommen.”

Um ihren Traum zu erfüllen, beschlossen Inna und Timur zwei Kindern eine sehnlichst erwünschte  Familie zu schenken. 

“Es dauerte fast ein Jahr, bis wir das erste Kind in Empfang nehmen könnten. Im Juni haben wir Marcel aufgenommen und im September haben wir die nächste Bewerbung eingereicht. Und genau ein Jahr später nahmen wir Angelina auf.”

Aus einem sicheren, aber fremden Land zog Angelina zu ihrer neuen Familie nach Kyjiw. Glück, Eltern zu haben, Geborgenheit zu spüren – und das alles unter den Salven fast täglicher Luftangriffe und Raketenangriffe. 

“Es ist schwierig, wenn die Luftschutzsirene ertönt. Sehr oft dauert es ein paar Minuten vom Alarm bis zu den ersten Explosionen, und du musst vier Kinder einsammeln und sie schlafend in einen Schutzraum bringen. Das Haus bebt, die Fenster wackeln, wir hören Explosionen, die Kinder haben Angst, es ist sehr beängstigend”, erzählt Inna. 

Die Wohnung der Familie Miroschnitschenko befindet sich im 23. Stock.

Man stelle sich vor, wie man ohne Strom lebt, denn in Kyjiw kommt es regelmäßig zu Stromausfällen. Die Familie mit ihren vier kleinen Kindern muss aus dem 23. Stockwerk die Treppe heruntergehen. Klar, wenn es Strom gibt, funktioniert der Aufzug. Und dennoch, wenn Inna dann den Aufzug benutzt, betet sie, er möge nicht steckenbleiben.

Wenn es keinen Strom gibt, gibt es außerdem kein Wasser in der Wohnung. Inna scherzt, dass sie eine Superpower entwickelt hat, zwei Kinder, die den ganzen Tag draußen gespielt haben, mit einer eineinhalb-Liter-Flasche Wasser zu waschen. Eine weitere Flasche ist für die anderen beiden. Und alle sind sauber. Als Mutter von vier Kindern in einem Land, das sich im Krieg befindet, muss man kreativ sein.  

Man kann nur vermuten, wie viel Liebe und Geduld  es braucht, um all das am Ende zu verarbeiten und sich wirklich darüber zu freuen. 

Eltern in der Ukraine haben es gerade schwer. Sie wollen auch während des Krieges Liebe und Trost vermitteln. 

Sie wollen ihren Kindern den Glauben an sich selbst vorleben, den Glauben an eine bessere Zukunft. Und bei all dem wollen Eltern, dass ihre Kinder diese wunderbare Fähigkeit bewahren, die einfachen Freuden des Lebens zu sehen und zu genießen. Eltern wollen, dass für ihre Kinder kleine Träume wahr werden, damit sie weiterhin an die großen Träume glauben können. 

“Egal, in welcher Zeit wir leben, egal welche Gedanken uns umgeben, nur ein Traum hält uns am Leben, und besonders wenn ein Traum wahr wird, verstehen wir, dass es sich lohnt zu träumen. Das ist ein „Stein auf Stein“, der uns weiter zu unserem persönlichen Sieg bringt.”  –  Das lebt Inna ihren Kindern vor. So lernt Angelina, die erst seit Anfang Sommer 2024 in der Familie Miroschnitschenko ist, zu träumen.

Gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern träumt Angelina vom Sieg und Frieden. Denn das sind die Träume aller Kinder in der Ukraine. 

Und außerdem träumt Angelina bereits von neuen Dingen – von rosa Haaren, einem Affen oder Ohrringen, denn jetzt hat sie Eltern, die bereit sind, ihre Träume wahr werden zu lassen. Und selbst wenn es rosa Haare sind, dann findet Mama eine Tönung mit dem nötigen Farbton. 

Egal, in welcher Zeit wir leben, egal welche Gedanken uns umgeben, nur ein Traum hält uns am Leben, und besonders wenn ein Traum wahr wird, verstehen wir, dass es sich lohnt zu träumen.

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