Die Bedeutung der mentalen Gesundheit für die ukrainische Bevölkerung im Kontext des offenen Angriffskriegs Russlands
Der Februar 2022.
Man sagt, er hält noch an und wird erst dann enden, wenn der Sieg der Ukraine über Russland verkündet wird. Erst dann wird ein richtiger Frühling beginnen — die Zeit der Wiedergeburt und des Friedens. Wenn die Welt da draußen nicht besonders stabil ist, muss man auf Pause drücken, bremsen und den Energienotversorgung-Modus aktivieren. Da hilft es, sich selbst zu schonen und kurz die Luft zu holen, um durchzustehen. Die Psychologen sagen, wenn die Instabilität zu lange anhält, greift das Gewöhnungsmechanismus ein und man schaltet um — in eine Phase der Aktivität unter den stressigen Bedingungen. Wenn Stress zum Dauerstress wird, ist es die beste Zeit, um für eigene mentale Gesundheit zu sorgen, anstatt immer weiter, immer schneller dem Unbekannten entgegen zu rennen und so die Gesundheit zu riskieren.
Ich schreibe diese Zeilen vor dem 1. Jahrestag des offenen Angriffs Russlands auf die Ukraine. Es geht mir durch die Haut, mich an den Morgen des 24. Februars 2022 zu erinnern. Es geht mir durch die Haut, zu realisieren, wie lange der Krieg bereits anhält und welche Opfer er bereits gefordert hat. Der Gedanke darüber, dass der Krieg weitergehen wird, ist kaum zu ertragen, und doch kann man ihn ertragen. Ich kann nicht für die ganze Welt sprechen, aber die Ukrainer:innen sind stark — das ist wahr: sie haben Ausdauer, Kraft und Mut. Die Kraft hat jedoch einen sehr teuren Preis — genau deswegen ist es sehr wichtig, nicht nur über sie zu sprechen, sondern auch darüber, wie man sie nachhaltig sichern und die Traumata in den persönlichen Wachstum transformieren kann.
Die Menschheit ist schrecklich gut darin, sich selbst sehr regelmäßig und systematisch zu verletzen: ein Land greift das andere an, eine Gesellschaftsschicht ignoriert oder missachtet die andere, ein Mensch verletzt den anderen. Es sieht nach einem festen Bestandteil des menschlichen Naturells aus, als ob jede zweite Generation die angestaute Wut loswerden muss. Nach den Gräueltaten des WW2, dem Holokaust, den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki (und das alles innerhalb von nur 12 Jahren zwischen 1933 undn 1945) schien „Nie wieder“ der einzig richtige Weg zu sein — human und in jeglicher Hinsicht zu erwarten. Die Realität beweist jedoch, dass solche Ereignisse und ihre Folgen für einen Teil der Menschheit erschreckend und inakzeptabel sind und für einen anderen — eine perverse Inspiration, die unvermeidlich zum nächsten Krieg und der Zerstörung führt.
Sigmund Freud und seine Nachfolger wären nicht über- rascht: Der psychoanalytische Begriff „Thanatos“ beschreibt den fehlenden Sinn und die fehlenden Möglichkeiten eines Menschen, den eigenen Zerstörungsimpulsen und der Anziehungskraft des Todes zu widerstehen. Dabei wird ein Mensch sowohl vom Drang zur Selbstzerstörung (Mortido), als auch der Aggression gegenüber Anderen inklusive Tötung (Destrudo) angetrieben. Als Gegenpol für solche Impulse wird die Kraft des Libido aktiviert: kreative Energie, die auf Schaffung, Vergnügung und Verlängerung des Lebens ausgerichtet ist.
In den Mythen und Märchen, die jeder von uns schon mal als Kind gehört hat, werden die Impulse und Triebe als die Kräfte des Guten und des Bösen genannt. In dem realen Leben sind diese jedoch nicht irgendwo da draußen, sondern innerhalb des Menschen selbst zu suchen und zu finden. Also, wie kann man nach vorne schauen und persönlich wachsen, wenn die Menschheit sich systematisch zerstört?
Die Antwort darauf ist unsere mentale Gesundheit. Sie ist das Fundament für die Akzeptanz der traumatischen Erfahrungen, und nicht die Versuche, die letzteren zu verstecken und so zu tun, als ob sie nie passiert sind. Mentale Gesundheit bedeutet, den Mut zu haben, sich selbst und der ganzen Welt zu sagen: „Ja, es war schwer, es hat weh getan und tut es immer noch, aber ich gehe weiter und werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit diese Erfahrung in der Vergangenheit bleibt“. Genau das machen die Ukrainer und Ukrainerinnen schon seit einem Jahr — sie schauen nach vorne und gehen weiter. Sie haben es auf eine harte Tour gelernt und dieses Wissen ist das Fundament ihrer Kraft. Bis zum Sieg und auch danach sind noch einige Herausforderungen zu meistern, umso wichtiger ist es aber, für die mentale Gesundheit zu sorgen.
Dies ist auch das Fundament für die weitere Entwicklung des Landes. Auf dem Spiel stehen die nächsten Generationen, ihre Zukunft, die neue ukrainische Geschichte!
Geschrieben von Romaniuk Liudmyla
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