Das Syndrom des aufgeschobenen Lebens

von | Mrz 11, 2023 | Lifestyle

Während der Krieg in der Ukraine weitergeht, haben viele Ukrainer ihr Leben „pausiert“. Sie warten auf den Sieg und damit auf den Triumph des Guten und die Gewissheit für die Zukunft. Sie hoffen, dass sie glücklich, energievoll und erfolgreich sein werden, dass sie ihr Leben dann in vollen Zügen genießen können.

Aber das ist ein Mythos.

Solange man nur in der Zukunft lebt und sich vorstellt, wie man sich nach dem Sieg fühlen und wie man auch leben wird, tut man wenig für das Hier und Jetzt, insbesondere im Kontext der psychischen Gesundheit. In diesem Artikel erzähle ich ausführlicher über das Syndrom des aufgeschobenen Lebens, über seine deutliche Ausprägung während des Krieges und darüber, was man bereits heute für sich selbst tun kann.

Vereinfacht ausgedrückt bezieht sich das Syndrom des aufgeschobenen Lebens auf ein Leben, in dem wir unser Glück in der Zukunft anstreben und das Hier und Jetzt als eine Zeit wahrnehmen, die bis dahin erlebt werden muss, um das Warten zu überbrücken. Im Hier und Jetzt scheint es keinen Grund (oder auch keine innere Erlaubnis) für Glück, positive Erlebnisse und Emotionen zu geben. Oft hängt eine solche Haltung mit einem großen Ziel, einem grandiosen Traum oder einem klassischen Szenario vom „Erfolg“ zusammen. Der Erfolg liegt dabei meistens noch in weiter Ferne und wurde noch nicht erreicht. Es heißt nicht, dass wir in den Modus „es eines Tages wird alles besser sein” verfallen. Glücklich dürfen wir uns allerdings erst dann fühlen, wenn bestimmte Ziele erreicht wurden. Es ist unmöglich glücklich zu sein, weil man noch nicht genug gebildet, reich oder schön ist, noch kein großes Geschäft aufgebaut oder eine perfekte Familie gegründet hat. Das Glück kommt daher einfach nicht in Frage. Im Zusammenhang mit dem Krieg hört man oft solche Sätze wie „es ist gerade unpassend“ oder „wie kann man dies und jenes machen, wenn der Krieg tobt“ usw.

In der Gegenwart scheinen Emotionen Tabu zu sein — entweder ist es unangemessen, sie jetzt zu fühlen, oder es gibt keine ausreichenden Gründe dafür und wir haben sie nicht „verdient“. Die Verbindung zu sich selbst und zum eigenen Körper ist so schwach, dass die einzige Möglichkeit, sich lebendig zu fühlen, ist zu träumen. Beispielsweise, sich in seinen Träumen nicht nur als Chef der Firma zu sehen, sondern als Besitzer des erfolgreichsten Konzerns des Landes. Es sollte nicht nur eine glückliche Familie sein, sondern ein perfekter Ehemann bzw. perfekte Ehefrau, ein schlaues Kind, das coolste Auto und ein tadelloses Haus mit einem Hund und dem schönsten Rasen in der ganzen Nachbarschaft.

Es geht nicht darum, dass man sich diese Dinge nicht wünschen kann, sondern darum, ob das wirklich die Dinge sind, die einen letztendlich glücklich machen. Denn das, was man jetzt hat, wird umso mehr abgewertet, je unerreichbarer und grandioser sich solche Träume anfühlen und je mehr Zeit man mit diesen Tagträumen verbringt. In der Realität taucht man in der Regel in eine Routine ein oder versinkt in den traurigen Gedanken, als wolle man die Zeit überbrücken und eigenes Leben vorspulen, bevor die erträumte Zukunft zur Wirklichkeit wird. Es kann jedoch sein, dass die gesteckten Ziele unrealistisch und somit unmöglich zu erreichen sind, so dass das Leben danach in der Gegenwart Wurzeln schlägt und die Person dann für Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte emotional gefangen hält.

Glücklicherweise ist das Syndrom des aufgeschobenen Lebens keine Krankheit oder psychische Störung — es ist lediglich ein Denkmuster, an das man sich gewöhnt hat. Es ist eine eine Art, wie man die Realität und sich selbst darin wahrnimmt. Der Krieg und die damit verbundene Mangel an Sicherheit sowie fehlende Stabilität fördern ein solches Denkmuster. Speziell die Ukrainer versinken gerade in Träumen von einer glücklichen Zukunft so sehr, dass die Abkopplung von der Realität und das Verbieten sogar der einfachsten Handlungen und positiven Emotionen zu einem Problem werden — für die Arbeit, die Beziehungen oder die Alltagsbewältigung.

Was ist also zu tun und wie kann man solche Herausforderungen meistern?

  1. Man muss verstehen, dass das Syndrom des aufgeschobenen Lebens keine Strafe oder schwere Krankheit ist. Man kann seine Einstellung ändern.
  2. Als nächstes sollte man sich mit der Frage befassen, wovor dieses Syndrom eigentlich schützen soll. Welchen Gefühlen geht man aus dem Weg? Welche Erfahrungen will man vermeiden?
  3. Ein wirksames Instrument ist die sogenannte Kunst der „kleinen Schritte“. Der Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland ist ein großes übergeordnetes Ziel, das durch viele kleine Schritte erreicht wird. Wenn man schon das Leben aufschiebt, weil auf den Sieg gewartet wird, dann kann zumindest jeder Schritt im Hier und Jetzt mindestens mit einem Lächeln belohnt werden.
  4. Es ist immer sinnvoll, sich um den eigenen Körper und die eigene Psyche zu kümmern und im inneren Gleichgewicht zu bleiben. Die Selbstachtung ist eine Investition in die Zukunft, in der die Träume wahr werden und in der man womöglich noch mehr Energie brauchen wird, als beim Warten. Gleichzeitig wird man durch Achtsamkeit geerdet und kehrt zu Hier und Jetzt zurück. Es ist auch wertvoll, einen Sinn in dem zu finden, was im eigenen Umfeld geschieht, auch wenn es schwer zu akzeptieren ist.
  5. In diesem Zusammenhang bin ich sehr beeindruckt von der existentiellen Psychologie (meine große Liebe in der Psychotherapie, zusammen mit der analytischen Richtung, in der ich arbeite). Im Prozess der Therapie geht es darum, Sinn und Werte zu schaffen, die zur Resilienz in schwierigen Lebensumständen und zum persönlichen Wachstum beitragen. Das führt zu guten und vor allem langfristigen Ergebnissen.

Wir werden immer Zeit haben, unser Leben auf Eis zu legen. Aber gerade jetzt, in diesen unsicheren und sehr schweren Zeit, es zu leben und in vollen Zügen zu genießen, ist eine wahre Kunst und ein Zeichen der Geistesstärke. Und das Leben im Hier und Jetzt anzufangen, ist bereits ein Sieg – ein persönlicher, aber ein bedeutender.

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