Die dunkle Stunde ist da

Seit einem halben Jahr arbeite ich als Hausärztin in Dresden.
Unter meinen Patienten gibt es viele Ukrainer:innen.
Heute kam zum Beispiel eine junge Frau.
Nennen wir sie Frau K.
Sie hatte keine Beschwerden, sie ist nur gekommen, um sich als Patientin anzumelden. Sie wartete fünf Stunden in der Schlange, um sich einfach zu vergewissern, dass sie einen Hausarzt hat, für den Fall der Fälle.
Als ich ihre vegetative Anamnese aufnahm, stellte sich heraus, dass sie unter Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, labiler Stim- mung und chronischer Blasenentzündung litt.
«Aber das sind nur Kleinigkeiten», sagte Frau K., «ich habe was zu essen, es ist warm bei uns zu Hause, man hört keine Schüsse».
Ja, alle ihre Gliedmaßen sind da, sie schläft nicht im Graben und ist sogar letzte Woche mit ihrem Kind nach Lwiw gefahren, um sich dort mit dem Ehemann zu treffen. Das war der Grund für ihre Blasenentzündung. Unser Urologie-Lehrer nannte sowas «Honeymoon-Zystitis».

«Aber meine Blasenentzündung ist so ein typisches Problem, ich habe Preiselbeersaft gemacht, es wird weggehen. Es gefällt mir sogar, diese Entzündung ist wie eine Erinnerung.»

Collage: Oleksandra Kulikovska

Es ist ein verbreiteter Trend, eigenen Schmerz abzuwerten, da sich die ukrainische Schmerzskala täglich aktualisiert. Aber Schmerz ist subjektiv, und wenn jemand zum Beispiel Schmerzen unter dem Nagel hat, dann tut es weh, unabhängig davon, wie viel schlimmer oder besser es in diesem Moment den Anderen geht.

Eine andere Frau, sagen wir Frau L., fragte mich heute, ob ich ihr Antidepressiva verschreiben könnte. Denn Wein wäre zu teuer und sie ist erschöpft vom ständigen Weinen.

«Wann haben Sie das letzte Mal Freude gefühlt?», fragte ich. «Unter welchen Umständen?»

«Meine Tochter und ich waren in Disneyland», antwortete Frau L. «Wir sind mit Low Cost geflogen — Ich habe bei meiner Nachbarin geputzt, um etwas Geld zu sparen», begann sie sich aus irgendeinem Grund zu rechtfertigen. «Wir sind geflogen, um ihren 9. Geburtstag zu feiern, wir sind viele Attraktionen gefahren, haben die ganze Zeit gelacht und hatten Spaß, aber…»

«Aber was?»

«Aber wir sind im Mai geflogen, bevor Kherson befreit wurde, unsere ganze Familie ist in Mykolajiw, es gibt dort kein Wasser, es wird ständig bombardiert, und wir sind in Disneyland…»

«Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie das Leben genießen?», fragte ich.

Aber nicht sie, mich selbst.
Denn Frau L. ist nicht die Einzige.

Kürzlich besuchte ich zum ersten Mal seit langer Zeit eine Galerie. Ich war überrascht, denn ich hatte vergessen, wie man etwas nur zum Spaß macht, weil es einem Freude bereitet.
Und dann wurde es mir klar. So etwas wie «Es ist gerade unpassend» gibt es nicht.

Im Gegenteil, Krieg ist ein guter Zeitpunkt, um «Guilty pleasure» in ein Manifest zu verwandeln. Die Freude am Leben, jede Freude von klein bis groß, in ein Manifest zu verwandeln. Dem chthonischen Fleischhorror die Vitalität entgegenzusetzen. Den Angststunden — die Minuten puren Glücks.

Leute, die dunkle Stunde ist da! Es gibt keinen Grund, etwas auf später zu verschieben.

Ich schwöre, ich gebe mir, der kleinen Ira aus meiner Vergangenheit, die in Bazarnaya 102 in Odesa wohnte, das ehrlichste und aufrichtigste Versprechen, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum bei teuren Pralinen nie überschritten wird. Denn sie werden alle aufgegessen. Wenn die Zukunftsperspektive die Dunkelheit und nicht das Licht bringt, muss man leben, solange die Nacht nicht angebrochen ist.

Die dunkle Stunde ist gekommen, das heißt, es ist Zeit, die Kerzen anzuzünden, denn es wird Licht benötigt.

Und jeder hat seine eigenen Kerzen.

Es spielt keine Rolle, was einem Kraft gibt: Zigaretten, blöde Videos, den Stahl oder Intrigen schmieden, gruselige sexuelle Beziehungen oder Songs, die man mit verräterischer Jugendsehnsucht und einer Prise Selbsthass hört.

Egal ob ehrenamtliches Engagement oder endlose Arztbesuche, Kunst oder Sport.

Egal ob rosa Haare, ein absurder Streit oder ein heißes Bad.

Egal ob Baldrian oder Haloperidol, Umarmungen mit Mama oder verbotene Liebe.

Welchen Unterschied macht es, wenn es funktioniert?
Man muss das tun, was Kraft gibt.

Dieser Krieg wird lange dauern, er dauert schon seit einem Jahr, und von Wut und Askese wird man nicht satt.

Man kann sich nicht für eine Kerze schämen, die Licht spendet.

Denn das Licht vertreibt die Dunkelheit, aus der man nicht immer zurückkommt.

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